Demokratie essen Angst auf – Angst essen Demokratie auf

von E.Bartsch
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Ich erkläre, warum

  1. das Grundeinkommen nicht bloß die Voraus­setzung für Demokratie ist, sondern mehr noch, das Grundeinkommen die Demokratie ist;
  2. aber derzeit die Demokratie das Grund­einkommen verhindert;
  3. und ich gebe zur Veranschaulichung einen Ausschnitt aus dem Romanprojekt Friedhof, ein Dialog in einer Videoschalte im Jahr 2039, in dem eine kollektive Superintelligenz die Kontrolle über den Globus übernommen hat. Ein Großvater erklärt seiner Enkelin, warum und wie sich das Grundeinkommen allgemein durchgesetzt hat.

(1) Demokratie essen Angst auf

Was ist denn überhaupt Demokratie? Demos – die Herrschaft des Volkes. Was aber ist das Volk? Um diesen Begriff zu verstehen, tut es gut, an einen idealen Urzustand zu denken. In ihm existiert das Volk als die Bevölkerung im Goldenen Zeitalter Ovids, als die Urgesellschaft von Marx, als die Stammesgesellschaft der Horden-­Zeit von Freud und der Ethnologen – und im kurzen Moment der gelungenen Revolution. Der Urzustand, auf den sich der Diskurs der Demokratie besinnen muss, wenn er nicht ideologisch sein will, ist eine Gemeinschaft von Menschen, die über sich selbstbestimmt, wie sie überlebt, sich schützt, für alle ihre Mitglieder sorgt. In dieser Gemeinschaft leben alle, selbst die Schwächsten, die Kleinsten, ohne Angst um ihre Existenz. Jeder fühlt, dass ihm die Gemeinschaft diese Freiheit, diese Sicherheit gewährt. Nur wenn in diesem Anspruch alle gleich sind, ist Demokratie. Immer, in jedem Demos, selbst im urtümlichsten, gibt es Herrschaft. Die Herrschaft geht aber vom Volke aus, vom ganzen Volk, einschließlich der in ihrer Existenz gesi­cherten Kleinsten und Schwächsten. Und nach Platon sind die herrschenden Philosophen, das heißt: Ihre Herrschaft gründet sich auf Klugheit, Wissenschaft und Gerechtigkeit. Es besteht in der Demokratie ein Vertrag der Herrschenden mit dem ganzen Volk, ohne Ausschluss von irgendjeman­dem, der klein, schwach oder erst später dazu gekommen ist und um seine Existenz bangen muss. Wenn die Herrschaft ihren Teil des Vertrags bricht und Existenzangst erzeugt – und sie tut es, sie hat es immer getan! – ist die Folge ein Zerbrechen der Demokratie, die Bevölkerung zerbricht in Völker, in Klassen, mit Ausbeutern und Ausgebeuteten. Die Herrschenden finden perfide Rechtfertigungen wie: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen …!“

(2) Angst essen Demokratie auf

In der modernen Demokratie der westlichen Hemisphäre, ich nenne sie die „real existierende Demokratie“, sind die Voraussetzungen auf den Kopf gestellt. Nicht die angstbefreite Gleichheit aller erzeugt die Demokratie, sondern die Demo­kratie gewährt Schutz und Sicherheit oder gewährt sie nicht, jedenfalls nicht allen, es wird in ihr nach ideologischen Gutdünken von Teilen der Gesell­schaft entschieden, wer von Existenzangst befreit in ihr leben darf und wer nicht. Die moderne Demokratie wurde von der bürgerlichen Klasse als repräsentative parlamentarische Demokratie ein­ geführt, welche sukzessive neue Eliten hervorbrachte, die nichts anderes im Sinn hatten, als ihre Herrschaft für neue, zuerst brachiale und später subtile Formen der ökonomischen Ausbeutung zu nutzen und für Exklusion, indem sie Teile der Bevölkerung ausschlossen aus ihrem Schutzver­sprechen, erst die Klasse der Besitzlosen, Proletarier, und allen Frauen die Mitbestimmung verweigerte; dann ethnische Gruppen, und das bis heute. Diese Demokratie ist insofern das Gegenteil der Demokratie im Urzustand, als sie das ele­mentare Menschenrecht auf Essen und einem Dach über dem Kopf zu verweigern imstande ist. Das ihr zugrundeliegende ökonomische System befreit nicht von Existenzangst, sondern steigert sie über alle Maßen bis hin in gesellschaftliche Schichten, deren Angehörige objektiv betrachtet keine Angst haben müssten, sich dennoch im Hamsterrad drehen, Existenzangst ist allge­genwärtig. Sie schmiert den Motor der politischen Inszenierungen und Rituale, mit denen sich die Herrschenden ihrer Macht versichern. Wenn diese Demokratie ein Grundeinkommen gewährt, dann ist es ein Danaergeschenk von oben, das aus ideologischem Kalkül einer kleinen Zwischen­schicht zugutekommt. Das Grundeinkommen, so wie es die politischen Eliten verschiedener Couleur heute diskutieren, ist nicht mehr als ein technisches Instrument zur Herrschaftsverfei­nerung in der postindustriellen Gesellschaft. Damit trägt es zur Vereinzelung bei, es nährt den Individualismus in einer vom Identitätsfimmel ge­prägten postmodernen Kultur und setzt sich der „Gefahr der Logik des Besonderen“ (S. 249) aus, wie von Philipp Sarasin in 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart (erschienen 2021) be­schrieben.

(3) Angst aufgegessen

Julia: Opa, stimmt es, dass es in Seeland früher, wie ich auf die Welt gekommen bin, Leute gegeben hat, die Angst hatten, ich meine, richtige arge Angst, dass nicht mehr genug zum Essen da ist, für ihre Kinder, und dass sie ihre Mieten nicht bezahlen können?
Ich: Ja, ja, das hat es gegeben. Und es sind immer mehr Menschen geworden, die eine solche Angst gehabt haben. Weißt du, es gab ja diese Pandemien, das fing so um 2020 an, zuerst die erste Pandemie, dann ein paar Jahre später die noch viel ärgere zweite Pandemie, dazwischen Kriege mit schlimmen wirtschaftlichen Folgen, zuerst Ukraine, kein Gas aus Russland mehr, dann Israel, Öl knapp, Angst vor islamischem Terror im Westen, Klimakrise, Klimakriege, verstehst du, Krieg, die militärische Eska­lation zwischen China und den USA wegen Taiwan, plötzlich keine Nanotechnologie aus Taiwan mehr, Pentagon dreht durch, Koreas Kim dreht durch, Krieg, und in den USA der Bürgerkrieg.
Julia: Krieg? Krieg? So arg? Wahnsinn! Davon habe ich noch nie was gehört.
Ich: Wie? Nichts gehört?
Julia: Nein. Nie.
Ich: Wie ist das möglich? Sie haben dir nichts erzählt? Wie bist du aufgewachsen?
Julia: Alles gut, Opa. Für alles ist ja gesorgt, Opa.
Ich: Das hast du gelernt?
Julia: Ja. Ohne Sorge sei ohne Sorge.
Ich: Und wenn es dunkel und wenn es kalt wird?
Julia: Sei ohne Sorge –
Ich: Aber –
Julia: Nichts aber. Mit Musik.
Ich: Ja, heiter und mit Musik. Glaub mir, die Angst um die Existenz hat auch bei uns in Seeland allen immer mehr den Atem genommen. Wegen der Konsumzwänge.
Julia: Mit Musik –
Ich: Ja.
Julia: Was sollen wir tun?
Ich: Und denken? Denken eben! Denken!
Julia: Opa! Hast du gedacht? Du?
Ich: Damals nicht. Oder falsch. Damals war ich dumm.
Julia: Warum? Warum hat die Politik nicht dagegen gearbeitet? Gut, es gab damals das Netz noch nicht, oder?
Ich: Das Netz, nein, das hat es noch nicht gegeben, und es hat ziemlich lange gedauert, bis es bei uns in Seeland richtig funktioniert hat. Wohl deshalb, weil die Menschen bei uns besonders auf die Ablenkungsmanöver der Politik hereinge­fallen sind. Das hat mit unserer Geschichte zu tun, mit der Nazi­-Zeit. Aber es würde zu weit führen, dir das zu erklären, liebe Julia, und dich zu langweilen.
Julia: Das langweilt mich gar nicht, Opa! Halt mich nicht für blöd! Ich will das wissen! Man hat mir gar nichts erklärt. Und vor allem sag mir, was für ein Ablenkungsmanöver die Politik damals bei uns in Seeland –
Ich: Nicht bloß bei uns in Seeland. Die Politik hat damals in vielen europäischen Ländern alles auf genau die Menschen geschoben, die am meisten um ihre nackte Existenz haben zittern müssen. Bei denen ist es um das pure Überleben gegangen. Das kannst du dir nicht vorstellen: Die Migranten aus Afrika und Asien waren das. Denen wurde das Existenzrecht abgesprochen. Man hat sie hingestellt und behandelt wie Tiere, nicht wie Menschen. Herumgeschleppt, zurückgestoßen, Push­backs hat man das genannt. Man hat die Menschen einfach ins Meer geschmissen und ertrinken lassen. So war das damals. Scheußlich.
Julia: Das ist ja der helle Wahnsinn! Warum? Warum denn? Und das Netz? Das Netz hat nicht eingegriffen.
Ich: Doch. Hat es. Aber erst später. Für viele viel zu spät. Ich glaube, das Netz hat es damals noch gar nicht richtig gegeben. Oder es war noch zu schwach, um etwas zu unterneh­men. Und dann, als es stark genug war, hat es erst die globalen Schäden reparieren müssen, in den Ländern außerhalb Europas, dann erst unsere Demokratie.
Julia: Demokratie? Igitt! Was ist denn das wie­der?
Ich: Naja. Dieses Wort kennst du halt nicht mehr. Demos heißt altgriechisch Volk, kratos Herrschaft. Das Netz hat ­kratie aus dem Begriff entfernt, als es dann endlich die Kontrolle über die Politik übernommen hat. Jetzt heißt es ja Demonstration, wenn wir wählen oder abstimmen, vorher hat dieses Wort wieder etwas völlig anderes bedeutet.
Julia: Was denn?
Ich: Ja, Demo eben.
Julia: Was Demo? Das, wo du nicht hingekom­men bist? An diesem 14. Februar?
Ich: Ja.
Julia: Was ja? Uropa!
Ich: Bin nicht dein Uropa!
Julia: Was bist du dann? Sei bloß nicht einge­schnappt jetzt. Ich will das wissen! Was für Demo? Was ist passiert?
Ich: Deine Eltern haben demonstriert. Mit Leu­ten der letzten Generation. Die haben sich auf der Zufahrtsstraße zum Skilift am See­berg angeklebt. Weil sie gegen den Winter­sport im Naturpark waren. Und den Bau von Ferienchalets. Gegen Bodenversiegelung. Wegen der Erderwärmung. Gegen das falsche Denken, das falsche Konsumverhalten, den falschen Motor der Existenz­angst.
Julia: So. Und du? Opa! Du hättest dort eine Rede halten sollen. Sagt Mama. Du bist nicht gekommen. Warum denn nicht?
Ich: Das kann ich nicht so einfach erklären.
Julia: Warum nicht? Versuch es!
Ich: Sag zuerst, wo ihr seid.
Julia: Nein. Du sagst mir, was passiert ist. Sonst breche ich die Verbindung ab. [Unver­ständliches Geräusch, vielleicht Weinen]
Julia: Niemand erklärt mir etwas. Ich weiß nichts. Alle halten mich für dumm. Dich nerve ich nur mit meinem Auftauchen und Verschwin­den.
Ich: Deine Eltern und du, ihr habt angeblich das Netz verlassen. Aber ist das denn überhaupt möglich? Wie schaffst du es denn, die Ver­bindung mit mir herstellen? Wer hilft dir? Karla? Robert? Wissen sie davon?
Julia: Nichts wissen sie. Sie halten mich für blöd. So wie du.
Ich: Aber sag mir doch einfach, wo du bist.
Julia: [sehr undeutlich]: Und wenn ich es nicht weiß?
Julia: Mama und Papa sagen, du bist ein Verräter, ein doppelter und dreifacher Verräter sogar. Wenn Leute wie du nicht wären, die den Menschenwesen das Grab geschaufelt haben –
Ich: Aha! So ist das! Ich stehe also jetzt als Verteidiger und sogar Ermöglicher da!
Julia: Ja. Das sagen sie. Und, stimmt es?
Ich: Wo sind sie? Bist du bei ihnen? Wissen sie, dass du mit mir Kontakt hast?
Julia: Nein. Nein. Nein. Sie wissen gar nichts. Und ich weiß nichts.
Julia: [flüsternd]: Sag du mir alles, Opa.
Ich: Dann hör mal: 25 Jahre, das ist angesichts der globalen Beschleunigung eine unglaub­lich lange Zeit, in diesem Vierteljahrhundert haben deine schlaue Mutter, dein super­ kluger Vater und meine Wenigkeit gemein­sam und getrennt voneinander ein winziges bisschen zum Sieg über die Dummheit beigetragen
Julia: Meine Mama?
Ich: Frau Doktor Karla Sinalco, die Linguistik­-Professorin.
Julia: Mein Papa?
Ich: Herr Doktor Robert Will, das geoinforma­tische Superhirn aus Deutschland.
Julia: Ihr habt zusammengearbeitet?
Ich: Es gab eine Zeit, da waren wir alle noch nicht von Zweifeln angekränkelt.
Julia: Angekränkelt? Was ist das für ein Wort. Urli! Willst du mich verarschen!?
Ich: Du warst damals ein ziemlich außerge­wöhnliches kleines Mädchen, sehr selbst­bewusst, mit einer lauten, tiefen Stimme, ein wenig pummelig, mit Beinen, die stampfen konnten, und großen grünen Augen, die alles zu bemerken schienen. So habe ich dich in Erinnerung.
Julia: [lacht]: Ach wirklich? Weiß davon nichts mehr. Nichts.
Ich: Damals, Anfang der 2020­er, waren das Gute und das Böse noch voneinander geschieden.
Julia: [lacht leise weiter]: Ihr wart alle drei für das Gute?
Ich: Das Gute ist in unserer Sprache einfach, es gibt ein eindeutiges Wort. Sein negatives Gegenstück aber ist gespalten in das Schlechte und das Böse. Aber in Wirklich­keit ist das, was dem Guten entgegensteht, das Dumme.
Julia: Ihr glaubt, ich bin dumm.
Ich: Wer glaubt das? Ich nicht.
Julia: Man hat mich für dumm verkauft. In Unwis­senheit gelassen.
Ich: Du bist ihnen weggelaufen?
Julia: [sehr leise, fast unhörbar]: Vielleicht. Ja.
Ich: Sie tun so, als wäre ich der alleinige Profiteur der Life­Balance, die wir jetzt haben. Robert hat damals genauso wie ich an das Gute der Wellbeing­Economy ge­glaubt, an ihre fünf Prinzipien: Erstens Würde: Jeder hat genug für ein angeneh­mes, gesundes und glückliches Leben. Zweitens Natur: Eine wiederhergestellte und sichere natürliche Umgebung für alles Lebendige. Drittens Verbundenheit –
Julia: Fängst an zu predigen, Uropa? Sag mir lieber, wie hat das Netz es geschafft, die Existenzangst wegzubringen? Niemand hat mehr Angst, ich zumindest habe in ganz Seestadt keinen kennengelernt.
Ich: Heiter – Julia: Was?
Ich: Da gebe ich dir recht. Niemand hat mehr Angst. Das hat das Netz gerichtet. Die Politik hat damals versagt. Sie war dumm, jetzt haben wir das super­intelligente Netz. Das Netz hat uns die Angst genommen.
Julia: Aber wie?
Ich: Einfach durch die Abschaffung des Zwangs zur Erwerbsarbeit. Das hätte die Politik damals nie geschafft. Uh, da muss man dann höhere Löhne zahlen! Jö, da haben die Leute dann nichts mehr zu tun und kriegen die Krise, und so fort. Das Netz hat alle möglichen Arbeiten durch Maschinen ersetzt und unsere Life­Balance eingeführt. Das kennst du ja. Auch wenn ich ganz tief im Malus bin, ein Dach über dem Kopf und genug zum Essen habe ich immer noch.
Julia: Du, Opa –
Ich: Ja?
Julia: Sag mir ganz ehrlich. Angesichts eines Endes –
Ich: Die Angst kommt von dem Schrecken des kleinen Kindes, man lässt es liegen.
Julia: Und wohin tragen wir –
Ich: Unsre Fragen und den Schauer aller Jahre?
Julia: Am besten?
Ich: Die kindische Angst wiederholt sich in allen möglichen Lebenslagen, oft multipliziert.
Julia: Am besten?
Ich: Auch vor dem Sterben haben wir Angst, weil wir fürchten, liegengelassen zu werden.
Julia: In die Traumwäscherei ohne Sorge sei ohne Sorge –
Ich: Jetzt wissen wir, das Netz lässt uns nicht liegen.
Julia: Was aber geschieht –
Ich: Keinen von uns. Jetzt gibt es keine Angst mehr.
Julia: Wenn Totenstille eintritt […]

Text: Walter Fanta

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