Bildung im Alltag ist die natürlichste Art, sich Wissen und Kompetenzen zu erschließen. Das alltägliche Lernen ist immer praxisbezogen, persönlich relevant und sinnerfüllt.
In der Pädagogik weiß man längst, dass Menschen Fähigkeiten am effektivsten im Kontext interaktiver Handlungen entwickeln und festigen – und dass die lebenspraktische Relevanz eine der wichtigsten Zutaten für den Lernerfolg ist.
Der Alltag = Lebenslanges Lernen
Lebenslanges Lernen gehörte immer zum menschlichen Dasein. Eine Gesellschaft, die augenscheinlich im Wandel begriffen ist, macht sich dies lediglich mit größerem Nachdruck bewusst:
Wer nicht außen vor bleiben will, muss bereit sein, seinen Horizont ständig zu erweitern. Es sei vorweggenommen, dass sich der Begriff „lebenslanges Lernen“ hier keineswegs auf bildungspolitische Bestrebungen bezieht, deren Programme unter ebendiesem Titel darauf abzielen, möglichst alle Bürger dauerhaft in Ausbildungsapparaten festzusetzen (z.B. indem die Arbeitswelt vom ständigen Absolvieren neuer – natürlich nicht frei wählbarer – Kursmodule abhängig gemacht werden soll).
Im Gegensatz dazu meint der Begriff „lebenslanges Lernen“ hier das naturgemäße Wachsen an den Aufgaben und Herausforderungen des Alltags. Denn: Bildung im Alltag
- passiert auf der Ebene der praktischen Lebenserfahrung
- erweitert Weltverständnis und Einfühlungsvermögen
- ist die Grundlage für die Entwicklung von Problemlösungsfähigkeiten
- stärkt soziale Fähigkeiten, die nicht nur für ein friedliches und respektvolles Miteinander, sondern auch für den persönlichen Austausch von Wissen und Erfahrungen unerlässlich sind
- ermächtigt zu kritischem Denken
- unterstützt die individuelle Entwicklung und das Selbstbewusstsein
Klassenzimmer: Alltag
Wie eingangs erwähnt, weist die Lernpsychologie darauf hin, dass Praxisbezug, Interaktivität und persönliche Relevanz die Aneignung von Wissen und Kenntnissen am meisten begünstigen. Nicht ohne Grund sind auch im formalen Unterricht die erfolgreichsten Lernmodelle dem Alltag nachempfunden und weisen interaktiven Charakter auf. Der Umstand, dass andererseits Begriffe wie „Hausverstand“ oder „Traditionelles Wissen“ vom so genannten „bildungsnahen Standpunkt“ aus verpönt sind, ergibt daher gerade vor diesem Hintergrund wenig Sinn.
In den einschlägigen Kampagnen wird der Eindruck vermittelt, dass politisch beauftragte Statistiken und die vorgegebenen Dogmen aus der „Leitwissenschaft“ der einzig seriöse Zugang zur Bildung seien. Interessanterweise lässt sich zugleich beobachten, wie alle tragenden Säulen der Gesellschaft, deren Funktionieren von der Expertise entsprechend ausgebildeter Schul- und Studienabsolventen abhängt, sukzessive degenerieren (Wirtschaft, Medizin, Bildungswesen usw.).
Diese Degeneration wiederum scheint proportional zum Verschwinden eines lebenspraktischen Bildungshintergrunds zu geschehen, der einst rund um die Schulbildung herum verfügbar war – es aber mittlerweile nicht mehr ist. Die Rede ist z.B. von familiären oder örtlichen Strukturen, in die Heranwachsende früherer Generationen sehr viel aktiver eingebettet waren als das heute der Fall ist. Handwerkliches Geschick, organisatorische Fertigkeiten, soziales Bewusstsein, Naturerfahrung – diese Vorzüge wurden bis zu den 80er/90er Jahren weitestgehend im Verbund der Familie, der Herkunftsgemeinde und/oder durch den Bezug zur Natur „erlernt“.
Sowohl diese Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft und ihrer Tradition, als auch die Dimension des Freiraums steht der Jugend heute vergleichsweise nur noch eingeschränkt zur Verfügung. Dennoch wird dieser Tage das Wegfallen althergebrachter Strukturen als bildungspolitischer Fortschritt gefeiert, ohne zu berücksichtigen, dass dieses Wegfallen nicht nur ein Überwinden allzu verstaubter Traditionen, sondern gleichzeitig den Verlust von unzähligen Facetten gelebter Zwischenmenschlichkeit bedeutet.
Die Ergebnisse, die aus dem Bewusstsein und der Bildung des heutigen Alltags hervorgehen, legen den Schluss nahe, dass dem Menschen bereits sehr viel Raum für „Bildung im Alltag“ genommen wurde. Sich (nicht nur theoretisch, sondern auch physisch) „ausprobieren“ zu können oder nicht, mehr soziale Kontakte als elektronische Ersatz-Freunde zu haben oder nicht – das alles macht einen elementaren Unterschied.
Die Beschaffenheit des Alltags bestimmt die Beschaffenheit der Bildung, die daraus hervorgeht. Alles, was im Alltag auf Menschen – insbesondere auf junge Geister – einwirkt, gehört genauso (wenn nicht noch mehr!) zu ihrem Bildungsprozess, wie die Schulbildung. Das aus der Umgebung Übernommene oder Gefolgerte wiederum hat viel damit zu tun, als wen oder was Heranwachsende sich selbst, die Welt und ihre Rolle darin begreifen. In wiefern aber wird die Welt der Erwachsenen – sowohl privat als auch institutionell – der Verantwortung dieser Vorbildfunktion gerecht?
Bildung und Menschenrecht im Alltag
Mitarbeiter der Kreativfabrik haben sich gefragt, wie es um die allgemeine Kenntnis des Menschenrechts bestellt ist. Über Monate hinweg wurde aus Neugier im Rahmen beliebiger Begegnungen nachgefragt, ob und in wiefern das Menschenrecht bekannt ist. Dabei gab der Großteil der Befragten an, zwar von der Existenz einer Menschenrechtserklärung zu wissen, den Inhalt jedoch kaum zu kennen. Hierzu muss betont werden, dass es sich aufgrund der wahllosen Vorgehensweise keineswegs um eine empirisch relevante Stichprobe handeln kann.
Nichtsdestoweniger lässt das nahezu einhellige Resultat in Kombination mit einem bewussten Blick darauf, in wie vielen Lebensbereichen das Menschenrecht systeminhärent verletzt wird (und zwar mit der allergrößten Selbstverständlichkeit), den Schluss zu, dass die Unkenntnis des Menschenrechts durchaus auf den Großteil der Bevölkerung – z.B. Österreichs – zutrifft.
Es steht dem Leser frei, die Frage nach der Kenntnis des Menschenrechts auf seinen eigenen Radius inkl. sich selbst auszuweiten und die Aussagekraft der hier gezogenen Schlüsse selbst zu prüfen. An der Übermittlung von Übereinstimmungen oder gegenteiligen Resultaten wäre sowohl die Kreativfabrik, als auch die Akademie BGE durchaus interessiert. Teilt uns also gerne eventuelle eigene „Forschungsergebnisse“ mit!
Bildung und Menschenrecht im Alltag
In diesem Zusammenhang drängen sich Fragen auf, deren Vorhandensein am Vertrauen in die Grundpfeiler unserer Gesellschaft rütteln kann:
Aus welchem Grund dürfen immer noch Gesetze verabschiedet und Verordnungen erlassen werden, die ganz klare Menschenrechtsverletzungen darstellen? Warum können Menschen immer noch unter Existenzdruck zu Tätigkeiten, Pflichten und Bringschulden gezwungen werden, die z.B. gegen ihr Gewissen verstoßen oder ihnen physischen bzw. psychischen Schaden zufügen? Wie kann es sein, dass man von „Wahlfreiheit“ spricht, in einem System, das die Bewegungs- und Wahlmöglichkeiten von oben herab vorgibt und mitunter auch ganz gezielt einschränkt? Wie viele „Befehlsempfänger“, die im Staatsdienst und im Verwaltungsapparat „nur ihre Pflicht erfüllen“, kennen und achten die Menschenrechte?
Was für eine Art Bildungswesen und Arbeitswelt machen es möglich, dass junge Erwachsene, die Jura studiert haben, in ihrer späteren Berufspraxis von Anfang an blind dafür bleiben, wo und wie der Rechtsstaat gefährlich untergraben wird – und in wiefern die Auswirkungen ihr eigenes Leben und das ihrer Nachfahren betreffen?
Welche Art von Bildung bringt Ärzte hervor, die sich mit besten Absichten und großem Einsatz durch ein forderndes Medizinstudium geackert haben, sich aber als fertige Mediziner nicht gemeinschaftlich wehren, wenn sie von einer übergriffigen Ärztekammer und einer irrwitzigen Gesetzgebung autoritär daran gehindert werden, zum Wohl ihrer Patienten zu wirken und ihren Dienst mit reinem Gewissen zu tun?
Besteht denn die Bildung, die wir aus unserem – vom Narzissmus geprägten – Alltag mitnehmen, nur noch darin, in erster Linie zu „lernen“, dass diese Gesellschaft, die einerseits manisch nach mehr „Personality“ schreit, letztlich doch nichts mehr hasst, als die Wahrung echter Integrität? Dass man „ja doch nichts ausrichten kann“? Dass Gerechtigkeit „sowieso keine Chance“ hat und man besser keine Meinung äußert? – Ganz besonders wenn es eine abweichende ist?
Wenn dem wirklich so ist, dann wäre es langsam an der Zeit, sich zu fragen, ob und warum wir meinen, dass wir uns damit selbst einen Gefallen tun – nicht wahr?
Alltagsbildung – Aussichten
Vor allem die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, wie sehr substanzielle Fragen zum Thema Menschenrecht und Verfassung im öffentlichen Diskurs als „Querschlägerei“ abgetan, totgeschwiegen oder von Vornherein in eine Rubrik des Indiskutablen verschoben werden – etwa die des Wahnsinns, der Radikalität, des Extremismus, des Absurden. Dabei müsste doch die Regierung eines Staates, dessen Grundwerte auf der Verfassung, der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten basieren (sollten), zu allererst in der Lage sein, Fragen – und ja, auch kritische Fragen! – mit Argumenten zu beantworten, statt sie durch plumpe Bevormundung und Emotionalisierung von vornherein zu unterbinden. Nun: Ist sie denn dazu in der Lage?
Was lernen wir aus unserer Lebensrealität? – Soll uns der Alltag suggerieren, dass es kleinlich und realitätsfern sei, so etwas wie die Erklärung der Menschenrechte allzu genau zu nehmen?
Sollen wir uns mit eigenständigen Meinungen lieber ducken und froh sein, (wenigstens vorerst) nicht selbst zu den Ländern zu gehören, in denen der Ausnahmezustand „Krieg“ die Menschenrechte restlos aushebelt und uns wieder ins Gedächtnis ruft, warum sie zu achten so wichtig gewesen wäre?
Denkt irgendwer groß darüber nach, wie penetrant unser Alltag suggeriert, dass die Meinung des Einzelnen keine Macht und keine Chance habe, während gleichzeitig Unmengen an Geldern nur für Meinungsmache ausgegeben werden? Was würde wohl geschehen, wenn allzu viele dieser ja so „unwichtigen“ und „machtlosen“ Individuen über Nacht beschließen würden, dass sie keiner fremden Instanz je wieder erlauben, ihre Meinung zu „machen“?